Digitale Geschichtswissenschaft – was ist das eigentlich?

Open Lecture an der Universität Bremen am 18. November 2014, hier ist der vollständige Text nachzulesen mit allen genannten Links und Projekten

Einleitung

Die Euphorie rund um Themen der "digitalen Geschichtswissenschaften" wurde durch die Präsenz des Themas auf dem diesjährigen 50. Historikertag in Göttingen (2014) deutlich http://www.historikertag.de/Goettingen2014/programm (Programm des Historikertags):

Die große Präsenz des Themas ist erstaunlich, weil – anders als z.B. bei den Epochenbegriffen – gar nicht so recht klar zu sein scheint, welche Fragestellungen mit diesem Thema eigentlich benannt werden und was diese Sektionen eigentlich gebündelt haben.

Auch gibt es eine unterschiedliche Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Thema bei den verschiedenen historischen Disziplinen. So sind z.B. bei Historiker*innen der Alten Geschichte einige der digitalen Themen schon länger zuhause als in anderen Fächern, auch die Archäologie (die allerdings ihre eigenen Fachtage hat) ist schon seit langem in der Nutzung digitaler Technik für die Erschließung von Funden wegweisend. Digitale Medien bieten in der Archäologie nicht nur die Möglichkeit, Ergebnisse zu präsentieren, sondern bereits Erkennungsmerkmale zu erfassen und zu systematisieren, die oft bildlich sind (sich z.B. in Formen niederschlagen, die man im Text nur mühsam beschreiben oder vergleichen kann).

Was dann unter Label "digitale Geschichtswissenschaft" auf dem Historikertag anzutreffen war, war folgendes:

  • von Skepsis geprägte Diskussionen über den Einsatz von Wikipedia in der geschichtswissenschaftlichen Lehre,
  • Hintergrundinformationen über digitales Publizieren und dessen Zukunft, häufig verbunden mit der Nachfrage, ob Printprodukte eigentlich schon out sind oder ob es nicht gerade für das wissenschaftliche Distinktionsbedürfnis wichtig ist, welche Publikationsform und welchen der herkömmlichen renommierten Verlage man wählt,
  • Rückblicke, wie sich digitale Fachinformation und Fachkommunikation von ihren Anfängen an entwickelt hat (und für manche erstaunlich: Historiker*innen waren in ihrer Beteiligung am Humanitites Network, dem H-Net, sehr rege http://www.h-net.org/).

Ebenfalls in Göttingen und direkt vor dem Historikertag fand das THATCamp statt – ein international stattfindendes Tagungsformat ("The Humanities and Technology"-Camp) im Barcamp-Format. Barcamp bedeutet, dass alle ihre Fragen mitbringen, diese eingangs vorstellen und dann auch aktiv zur Klärung dieser Fragen beitragen – letztlich ein Format, das es in der Praxis nicht immer schafft, sich von regulären Tagungsformen zu unterscheiden. Denn auch ein Barcamp-Format kann nicht verhindern, dass einige ihre fertigen Vorträge einpacken und mitbringen.

Die Diskussion auf diesen beiden sehr unterschiedlichen Tagungsformaten war auch eine Kommunikation darüber, wie wir forschen und wie wir arbeiten (auf dem THATCamp auch: wie wir lehren). Dieses Thema verdient in der Tat ein Barcamp-Format viel eher als vielleicht eine herkömmliche Sektion auf dem Historikertag mit seinen Vortragsformaten und nur reduzierteren Diskussionsmöglichkeiten im Plenum.

Beim Austausch über das Thema "digitale Geschichtswissenschaften" geht es viel seltener um die Diskussion von Ergebnissen digitaler Formen der Forschung. Auch geht es nur vereinzelt um Beispiele für die Frage, wie eine digitale Unterstützung der Forschung (also des Erkenntnisgewinns) aussehen könnte, welche neuen Erkenntnisse es bringen kann, die Daten, mit denen wir zu tun haben, tatsächlich mittels digitaler Techniken oder digitaler Medien aufzubereiten oder zu bewerten. Und bei den eigentlich thematischen Sektionen wiederum wird z.B. die digitale Unterstützung einer Forschungsmethode oder die Forschungspraxis kaum thematisiert!

Häufig geht es dagegen um die Frage, was die "digitalen Skills" sind, die Historiker*innen benötigen. Und die Diskussion darüber bleibt häufig auch schon bei Fragen nach der simplen Recherche in den digitalen Medien stehen: Wie schätzen wir die Qualität ein der digitalen Informationen, die wir recherchieren? Was muss die Quellenkritik digitaler Quellen eigentlich im Unterschied zu herkömmlichen Quellen umfassen?
Die Fülle dessen, was digital recherchiert werden kann, ist enorm. Die Qualitätskriterien, die beispielsweise in einer Bibliothek gelten, gelten hier nicht. Wenngleich auch die Tatsache, dass ein Buch in Druck gegangen ist, keine Garantie darstellt, dass die gedruckten Erkenntnisse unhinterfragt gelten können oder überhaupt sauber nachgewiesen wurden.

Im Kern machen diese Themen eigentlich bereits die Grundlage dessen aus, was angehenden Historiker*innen vermittelt gehört: Wie unterscheide ich eine seriöse Argumentation von einer unseriösen, wie bewerte ich die Angaben in und zu einer Quelle? Wie bewerte ich den Ursprung einer Quelle, ihre Entstehung? Es sind Diskussionen, die so alt sind wie das Fach (und die auch immer irgendwie mit Medien zu tun haben – aber eben auch nicht nur).

In Hinblick auf die universitäre Lehre wird häufig, z.B. beim THATCamp, thematisiert: Wer soll diese Skills eigentlich vermitteln? Ist das die Aufgabe von Digital-Humanities-Spezialisten? Oder ist das ein selbstverständlicher Aspekt der Einführung in die Methoden, ergänzt darum, dass nun möglicherweise weitere Fähigkeiten zur Bewertung herangezogen werden müssen? Wenn es um das Recherchieren mithilfe digitaler Informationsquelllen geht, ist es durchaus denkbar, dass dies ein selbstverständlicher Bestandteil der Einführung in das historische Arbeiten ist. Sobald es aber auch ggf. ums digitale Publizieren, um das Erstellen von Online-Angeboten geht, wird es schon komplizierter mit der Vermittlung der dazugehörigen Skills.

Die Frage nach den Skills ist einer der interessanteren Aspekte an dem Thema "digitale Geschichtswissenschaften": Denn dieser beinhaltet eine Auseinandersetzung mit den Arbeitsweisen innerhalb des Faches, mit Regeln und ungeschriebenen Gesetzen. Eine Auseinandersetzung, die es immer gegeben hat, die aber vielleicht doch eine neue Qualität bekommt, weil jedes Medium natürlich Einfluss hat auf die Wahrnehmungsweisen, auf Ordnungskriterien, auf Kommunikationswege und -gepflogenheiten etc.

Noch interessanter allerdings ist ein anderer Aspekt, der oft leider eher internen Projektdiskussionen vorbehalten bleibt und in den genannten Foren nur eine untergeordnete Rolle spielt: nämlich die Entwicklung von Werkzeugen und die Nutzung technischer Möglichkeiten, die unsere Forschung und die Verfolgung unserer Fragestellungen unterstützen und vielleicht sogar verändern können!

In den meisten Diskussionen über "digitale Geschichtswissenschaften" kommt dieser Punkt allerdings viel zu kurz. Hier aber gibt es die mit Abstand spannendsten Entwicklungen, sie stecken z.T. noch in den Kinderschuhen und sind gewissermaßen "für Fortgeschrittene" – und zwar auch deswegen, weil es hier um einen handfesten, interdisziplinären Austausch geht, den Geisteswissenschaftler*innen mit Informationstechniker*innen, Informationswissenschaftler*innen etc. führen müssen. Und diese Form der Interdisziplinarität ist immer noch ein schwieriges Thema! Das Entwickeln von digitaler Forschungsunterstützung (bzw. präziser: EDV-gestützter Methoden der Forschung) ist daher meist die Aufgabe von großen Forschungsprojekten (drittmittelfinanziert zumeist, was Nachnutzungen erschweren kann, weil Projektparameter, -zeitpläne und Förderrichtlinien der Nachhaltigkeit, dem ausgiebigen Austausch oder auch dem "Trial & Error" im Weg stehen können).

Ein bisschen Ernüchterung stellt sich nach der Euphorie über die Allgegenwart des Themas ein, wenn man betrachtet, was unter dem Schlagwort "digitale Geschichtswissenschaften" tatsächlich diskutiert wird. Und um dieser Enttäuschung zu begegnen und sie in Aufbruchstimmung zu verwandeln, ist es für die Diskussion hilfreich, eine Klärung vorzunehmen, wovon eigentlich tatsächlich die Rede ist, wenn Historiker*innen sich zusammensetzen, um sich über digitale Geschichtswissenschaften auszutauschen.

Mein persönliches Fazit der Eröffnungsveranstaltung (2013) der noch recht jungen AG "Digitale Geschichtswissenschaften" im Historikerverband war, dass jede*r, mit dem ich dort gesprochen habe, ein anderes Thema von einer solchen AG und ihrer Veranstaltung erhofft als ein*e andere*r – das Spektrum war breit – und die einzelnen Themen müssen zunächst präziser benannt und unterschieden werden, um die Diskussion besser strukturieren und vorantreiben zu können. Allerdings überschneiden sich einige Aspekte auch. Und auch das kann einer differenzierten Diskussion im Wege stehen, wenn man die einzelnen Aspekte nicht klar benennt, definiert und ordnet. Was ebenfalls auffällt, ist, dass viel von der Verfügbarkeit und Nutzung digitaler Quellen durch die Forschung die Rede ist, dass aber die Institutionen, die Quellen bewahren und zur Verfügung stellen können, in den Diskussionen darüber noch unterrepräsentiert sind – beide Perspektiven auf Open Access kaum in einen Austausch treten.

Seit fast 14 Jahren habe ich als Historikerin berufliche Erfahrungen im Bereich der digitalen Medien – sie werden nicht zu unrecht immer noch geläufig als "neue" Medien bezeichnet, denn an ihnen ist in vielen Bereichen immer noch vieles neu; wenn man sich vergleichend mit anderen "Medienwechseln" oder Paradigmenwechseln auseinandersetzt, denn auch dieser scheint noch nicht abgeschlossen.

"Alles, was es schon gibt, wenn du auf die Welt kommst, ist normal und üblich und gehört zum selbstverständlichen Funktionieren der Welt dazu. Alles, was zwischen deinem 15. und 35. Lebensjahr erfunden wird, ist neu, aufregend und revolutionär und kann dir vielleicht zu einer beruflichen Laufbahn verhelfen. Alles, was nach deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, richtet sich gegen die natürliche Ordnung der Dinge." Douglas Adams

In meiner Berufspraxis, in der viel interdisziplinäre Vermittlung und Verständigung auf dem Programm steht, fällt mir immer noch auf, dass in Hinblick auf digitale (oder "neue") Medien häufig mehr über das Medium gesprochen wird, als über das, für das das Medium eigentlich das Vermittelnde oder das Werkzeug sein soll. Und die vielen neuen Begriffe und Dienste, die in diesem Zusammenhang in rasender Geschwindigkeit auftauchen, tragen nicht immer zur Klärung dessen bei, was eigentlich gemeint und gewollt ist oder was eigentlich die gestellten Aufgaben sind. Meist werden mehr Begriffe im Munde geführt, als von den Beteiligten im entscheidenden Moment vermutlich hinreichend definiert werden können.

In Hinblick auf die Geschichtsvermittlung mithilfe digitaler Medien z.B. passiert es häufig, dass erst Fragen wie diese gestellt werden Machen wir eine App? Machen wir einen Blog? Können wir das online stellen … oder vor über 10 Jahren war es z.B. eine Frage wie: Machen wir eine CD-ROM – ein beliebtes Trendwort zu einer Zeit, als umfangreiche Webinhalte zu Ausstellungen im Museumsbereich tatsächlich noch als verpönt galten und die Kapazitäten der Online-Medien andere waren als heute – streng genommen ist hier die Rede von einem Speichermedium, die Bezeichnung CD-ROM enthält keinerlei Aussagen darüber, für welche Inhalte oder Ziele dieses Speichermedium genutzt wird.

Die erste Frage auch bei der Nutzung neuer Medien sollte eher die danach sein, welches Problem gelöst oder welches Ziel erreicht, welcher Inhalt auf welche Weise vermittelt werden soll. Zielführend ist, wenn, sobald es ums Vermitteln geht, zunächst die Vermittlungsidee entwickelt wird, und sich dann erst die Frage anschließt, wie diese am besten medial verwirklicht werden kann und welche Techniken dabei nützen können: Kann man ein bestimmtes Ziel vielleicht sogar am besten vor Ort im Gespräch erreichen, was spricht dagegen, was ist der Aufwand und was das erhoffte Ziel?

Auch daran merkt man vermutlich, dass das Medium immer noch vergleichsweise "neu" erscheint. Die Etablierung eines Mediums oder eines Bündels von Techniken braucht ihre Zeit, bis es wie selbstverständlich in Methoden, Konzepte und Vorgehensweisen einfließt. Auch im Vergleich mit anderen Medien lässt sich diese Beobachtung machen und davon lernen (z.B. bei der Erfindung des Buchdrucks). Ein Wechsel von Leitmedien oder das Aufkommen eines neuen Mediums prägt eben sehr viel mehr als nur die Inhalte, die mit diesem Medium vermittelt werden – er nimmt auch Einfluss auf die bereits existierenden Medien!

"Es ist leicht, Technologien zu schätzen und zu nutzen, die einem mit 25 oder 30 Status- und Wissensvorsprünge verschaffen. Wenn es einige Jahre später die eigenen Pfründe sind, die gegen den Fortschritt verteidigt werden müssen, wird es schwieriger."
Katrin Passig, Standardsituationen der Technologiekritik

Auch das ist ein Aspekt der "digitalen Geschichtswissenschaften": Welches Potential haben digitale Methoden und Trends eigentlich, wenn es darum geht, herkömmliche Wissenschaftskommunikation, Gepflogenheiten, Hierarchien und Muster zu verändern? In diesem Diskussionsbeitrag geht es darum, ein bisschen Ordnung zu schaffen – und vorzustellen, was sich hinter Sektionen, Diskussionen, Arbeitsgruppen zur "digitalen Geschichtswissenschaft" eigentlich alles verbirgt – was man darunter versteht oder verstehen kann.

  1. Digitale Wissenschaftskommunikation
  2. Digitale Publikation von Ergebnissen wissenschaftlichen Arbeitens
  3. Digitale Arbeitsorganisation von Wissenschaftler*innen
  4. Digitale Quellen und wissenschaftliche Arbeitsgrundlagen
  5. Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse mit digitalen Mitteln?

1. Digitale Wissenschaftskommunikation

Wissenschaftskommunikation hat mit individueller Arbeitsorganisation zu tun (also dem 3. Punkt). Sie beinhaltet Formen der möglichen Zusammenarbeit unter Wissenschaftler*innen, sie betrifft auch den Austausch und das Preisgeben von Arbeitsergebnissen und hängt mit der Positionierung im Forschungsumfeld und in der wissenschaftlichen Community zusammen.

Eine Form digitaler Wissenschaftskommunikation, die hier als Beispiel dient, ist der Trend zum Veröffentlichen von Einschätzungen und Meinungen in Form von Blogs, zu einem bestimmten Thema oder einfach nur zu einer subjektiven Auswahl von Dingen, die man interessant findet.

Ein inspirierendes Beispiel ist der Blog des in Düsseldorf lehrenden Historikers Achim Landwehr "Geschichte wird gemacht", der sich vor allem mit sehr alltäglichen Formen des Geschichtsverständnisses, Redewendungen rund um Historisches, Vergangenes auseinandersetzt. (Irgendwann wird das sicher auch mal eine interessante Quelle für Historiker sein.) Er richtet sich gar nicht explizit an ein wissenschaftliches Publikum – insofern können diese Formen sich zu äußern, auch eine andere Form des Schreibens etablieren. Der Blog bereichert die Formen von Wissenschaftler*innen, sich zu äußern, und da das auch viel Arbeit macht, geht diese Zeit von Bemühungen für andere, etablierte Formen der Meinungsäußerung ab.
https://achimlandwehr.wordpress.com/ (Blog Achim Landwehr: Geschichte wird gemacht)

Blogs bieten auch die Möglichkeiten der Vernetzung von verteilt zu gemeinsamen Forschungsthemen arbeitenden Forscher*innen, sie können Austausch befördern und die Mühe der Recherche nach Kontakten, Ansprechpartner*innen verringern. Sie müssen nicht einer Person zugeordnet sein, sondern können zu einem Thema offen zur Mitwirkung einladen. Es gibt einen Beitrag zur "geschichtswissenschaftlichen Blogosphäre" von Mareike König und Klaus Graf (veröffentlicht im Blogportal hypotheses.org – in dem Wissenschaftler*innen und Netzwerke Blogs zu verschiedenen Themen anlegen können unter http://redaktionsblog.hypotheses.org/40, dort stellen sie auch verschiedene Blogs zu wissenschaftlichen Themen vor. Man kann sich einen Überblick über die Vielfalt der Themen und Interpretationen des Bloggens verschaffen (eine eigentlich schon sehr früh entwickelte Form der Internetveröffentlichung). http://redaktionsblog.hypotheses.org/40 (ein Überblick über Geschichtsblogs von 2011)

Mithilfe von Software-Systemen wie z.B. WordPress ist es inzwischen auch für Nicht-Programmierer*innen leicht, sich eine Publikations- oder Kommunikationsplattform aufzubauen. Auf entsprechenden Portalen kann man sich Blogs direkt einrichten, ganz ohne Installation oder ohne die Notwendigkeit, Anpassungen selbst vornehmen zu müssen. Diese Systeme bieten auch gute Möglichkeiten zur Vernetzung untereinander (gegenseitige Links bzw. Pingbacks).

Eine Unterkategorie (oder Weiterentwicklung) des Bloggens ist z.B. mit Twitter abgedeckt, das Microblogging (in Form von Mitteilungen von 140 Zeichen). Hier entstehen immer wieder neue und erstaunliche Formen des Ich-fasse-mich-kurz zu einem komplexen Gedankengang, die für die Wissenschaftskommunikation äußerst spannend sind, das zeigen Projekte wie "Beschreibe das Thema deiner Doktorarbeit in 140 Zeichen" oder "Beschreibe dein Projekt" in 140 Zeichen. http://dhdhi.hypotheses.org/1072 (Anleitung zum Twittern für Historiker*innen)

Es gibt natürlich noch eine ganze Reihe anderer Formen der digitalen Wissenschaftskommunikation, wie z.B. persönliche Websites von Forscher*innen, Projektwebsites für große (z.B. drittmittelfinanzierte) Projekte, die es vereinfachen, sich einen Überblick zu verschaffen, wozu andere forschen und welche Fragestellungen es gibt. Einen Überblick über Tools und Plattformen gibt es im Blog der AG "digitale Geschichtswissenschaften" im Historikerverband. http://digigw.hypotheses.org/164 (AG Digitale Geschichtswisenschaften über Tools und Plattformen)

Und es lässt sich (wenig überraschend) auch feststellen – und das war auch anlässlich des Historikertags so – dass die Menschen, die sich mit digitalen Themen in der Wissenschaft beschäftigen, auf Plattformen wie Twitter besonders stark vertreten sind. Auf wissenschaftlichen Tagungen, die sich diesen Themen widmen, finden auf diese Weise z.T. Paralleldiskussionen statt (es wird also parallel auf Twitter weiterdiskutiert, was gerade im Vortragssaal angesprochen oder ausgesprochen wird). Sie befördern so häufig den Diskussionsbedarf aus dem Vortragssaal hinaus, wo man ihn sich eigentlich im Vortragssaal wünschen würde.

Ein interessanter Aspekt an dieser Form der Wissenschaftskommunikation ist, dass die üblichen Formen, sich bekannt zu machen und ins Gespräch zu bringen – mitunter auch die Hürden und Ausgrenzungsmechanismen, die über Generationen eingeübt sind –, dadurch umgangen werden können. Man kann also über Twitter seinen Unmut über eine Podiumsäußerung kundtun, wenn man sich nicht traut, direkt und vor Ort in der analogen Welt einzuhaken – oder das nicht will. Man kann zur Meinungsbildung beitragen, einen interessierten Nutzerkreis informieren, spezifisches Fachwissen preisgeben, ohne sich real als Person einbringen zu müssen. Auch ist die Bandbreite, wie viel man von sich als Person preisgibt, größer.

Beobachtungen dazu und Tendenzen, wie das z.B. auch die herkömmlichen Mechanismen der Wissenschaftskommunikation (oder Tagungskommunikation als eine Form davon) verändern können, sind aber aus meiner Sicht noch noch nicht abgeschlossen oder ausdiskutiert.

Im Kontext von Konferenzen können kollaborative Tools dazu dienen, Notizen zu einem Vortrag nicht nur für sich persönlich vorzunehmen, sondern diese direkt in ein öffentliches Protokoll einzustellen und dort auch von anderen ergänzen zu lassen. Das kann Arbeit sparen und gleichzeitig sofort preisgeben, was die eigene Interpretation des Gehörten ist – Wissen wird direkt und unmittelbar preisgegeben und kann gemeinsam weiterentwickelt werden. Vielleicht sinken dadurch auch Hemmschwellen, die bei der Publikation eines wohlformulierten Tagungsberichts noch existieren können. Letztlich erfüllen aber beide Formen nach wie vor unterschiedliche Bedürfnisse.

Diese Form des Teilens und der Zusammenarbeit kann auch einen anderen wichtigen Aspekt wissenschaftlicher Kommunikation unterlaufen, nämlich die wissenschaftliche Konkurrenz, die ja durch die Möglichkeiten, in verschiedenen digitalen Medien zusammenzuarbeiten, nicht plötzlich aufhört, eine Rolle zu spielen. Zumal in einem Medium, in dem eindeutige Autorenschaft und das Erfordernis abgeschlossener Texte nicht immer gegeben sind. Versionen und Bearbeitungen können das gemeinsame Arbeiten an Fragestellungen und am Erkenntnisgewinn erleichtern. Wie man sich dabei allerdings taktisch klug verhält und wie die wissenschaftliche Community darauf reagiert, muss man im "neuen" Medium auch neu lernen.

In einem Online-Projekt wie der Docupedia Zeitgeschichte (http://docupedia.de/zg/ Themenkategorie: Methoden) gibt es die Möglichkeit zur Versionisierung und Bearbeitung durch weitere Wissenschaftler*innen zu einem Thema. Hier ist das Vorgehen nicht, dass jede*r hier mitarbeitet und ändern darf, wie z.B. in der Wikipedia – Artikel und Änderungen bleiben einer*m Autor*in zugeordnet oder von ihm auch autorisiert bzw. zugelassen.

2. Digitale Publikation von Ergebnissen wissenschaftlichen Arbeitens

Das Thema "digitale Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse" hängt mit dem Thema Wissenschaftskommunikation eng zusammen. Allerdings ist es ein Thema, das unter dem Label "digitaler Geschichtswissenschaft" immer besonders intensiv diskutiert wird. Denn das, was für Autorenschaft und abgeschlossene Ergebnisse gilt, gilt auch für mögliche digitale Formen der Publikation von Ergebnissen. Und hier kann die Angst vor dem Nachteil, den neue Formen der Publikation innerhalb der Hierarchie wissenschaftlicher Institutionen haben kann, für jede*n Einzelne*n ein existenzielles Thema sein, bei dem individuelle Entscheidungen getroffen werden müssen. Und hier kommt auch ein neuer Akteur ins Spiel: die Verlage mit ihren Strategien, digitalen Herausforderungen zu begegnen.

Es gibt Ansätze zu Peer Reviews, die vermittels digitaler Plattformen und öffentlich stattfinden, online stattfindende Qualitätskontrollen, die sich erstmal etablieren müssen (bzw. auf Vor- und Nachteile überprüft werden müssen) – so wie sich auch die analog stattfinden Qualitätskontrollen etablieren mussten und weiter hinterfragt werden können. Es gibt die Möglichkeit zu Online-Pulbikationen, die vielleicht nicht mehr zwangsläufig den Namen eines renommierten Verlages tragen, dafür aber frei zugänglich sind und so vielleicht auch häufiger zitiert werden, weil es einfacher ist oder schneller geht, ein Argument auf diese Weise online zur Kenntnis zu nehmen. Sie können insofern Vor- und auch Nachteile haben. Vor allem aber gilt es herauszufinden, was sich in der Disziplin noch ändern muss, bevor jede*r Einzelne frei entscheiden kann, auf welches Pferd sie*er setzt.

Die wissenschaftliche Kollaboration ist in vielen Disziplinen viel weiter verbreitet als in den geschichtswissenschaftlichen Fächern. Wenn sich also Publikationsmöglichkeiten etablieren, die schon vor der Veröffentlichung der fertigen Erkenntnisse stehen (und bei denen dann die Grenzen zur Kommunikation und zum fachlichen Austausch fließender sein können), dann kann das natürlich Auswirkungen darauf haben, wie sich auch die Formen der Publikation von Endergebnissen weiter entwickeln werden.

3. Digitale Arbeitsorganisation von Wissenschaftler*innen

Das Thema individueller digitaler Arbeitsorganisation ist mit Blick auf Veränderungen des Faches und ggf. auch Paradigmenwechsel interessant,

  • weil es jede*n einzelnen betrifft, sowohl Student*innen und etablierte Wissenschaftler*innen,
  • weil jede*r – auch ohne das "digitale Geschichtswissenschaften" zu nennen – in diesem Bereich vermutlich Erfahrungen beizusteuern hat,
  • weil hier noch viel mehr Bedarf besteht, Erfahrungen zusammenzutragen und zu nutzen, um Werkzeuge zu verbessern
  • weil letztlich diese Erfahrungen nützlich sein können, wenn es um das letzte und wichtigste Thema geht: die Nutzung digitaler Medien für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, den Aufbau von Forschungsinfrastrukturen, die eine neue Dimension von Fragestellungen möglicherweise mit neuen Methoden entwickeln hilft.

Jede*r Einzelne nutzt digitale Werkzeuge, um seine*r Tätigkeit nachzugehen. Im Jahr 1990 wurde die so genannte "Historical Workstation" auf dem Bochumer Historikertag vorgestellt (ein Vorschlag für Hard- und Software, Datenbankzugang und -erstellungs­möglichkeiten, die für die Forscher*innentätigkeit der*s Historikerin*ers nützlich sein soll). (Thaller, Manfred: The historical workstation project : part 1. In: Historical Social Research 16 (1991), 4, pp. 51-61. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-33117)

Schließlich geht es um nichts anderes als die Frage: Wie geht jede*r von uns vor, wenn wir Quellen sammeln, Literatur verzeichnen, uns Gedanken merken, diese ordnen. Insofern ist diese Frage eigentlich für niemanden neu oder überraschend, weil nicht nur am Ende des Arbeitsprozesses mithilfe von Hard- und Software Texte als Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit verfasst werden. Sondern weil die viel mühsamere Arbeit davor liegt: im Verwalten von Literatur, z.T. im Digitalisieren von Quellen aus dem Archiv, im Verschlagworten und Sortieren, Organisieren und Ablegen, Verknüpfen und Neuverknüpfen, auch im Schreiben von E-Mails und der Kommunikation – kurz: in der digitalen Wissensorganisation am eigenen Arbeitsplatz, im eigenen Computer, in der Cloud, in der Bibliothek oder wo immer es beliebt.

Das ist eine Tätigkeit, die wir alle kennen, die wir alle praktizieren und bei der wir digitale Hilfsmittel verwenden. Für die Entwicklung gemeinsamer Arbeitswerkzeuge oder sogar gemeinschaftlich genutzter Arbeitswerkzeuge lautet die entscheidende Frage: Welche Arbeitssituationen und Tätigkeiten sind für alle gleich und sind für die wissenschaftliche Tätigkeit von Historiker*innen charakteristisch – was also ist ein Problem, vor dem jede*r in sehr ähnlicher Weise steht oder stehen kann. Und welche sind dagegen der spezifischen Fragestellung und der spezifischen Quellenauswahl geschuldet? Wo findet man Quellen, wir organisiert man sie? Wie erschließt man sie und wie verwaltet man die Ergebnisse? Das können Bildquellen, Textquellen, Audioquellen, Filmquellen sein – sie können öffentlich zugänglich sein, sie können im Archiv oder bei Privatleuten eingesehen oder – sofern erlaubt – fotografiert werden. Wie sichern, handhaben und erschließen wir sie?

Es gibt eine Reihe wertvoller Tools, um Zitate, Literatur, Notizen, Quellen zu verwalten, zu verknüpfen, zu verschlagworten. Sie alle profitieren von den Erfahrungen, die einzelne in ihrer Arbeit gemacht haben (und auf größere Arbeitszusammenhänge übertragen bzw. verallgemeinert haben). Nur so können nützliche Lösungen entstehen. Diese Tools sollen hier nicht vorgestellt werden. Die bereits mehrfach erwähnte AG Digitale Geschichtswissenschaften hat (auf Twitter) ein Projekt unternommen, nachzufragen: Was nutzt ihr wofür? Wo nutzt ihr es? Welche Geräte oder Netzwerke sind beteiligt? (Twitter-Sammlung zum Hashtag #digwerhist)

Ein anderer Aspekt daran ist wichtig: Nur wenn man von den einzelnen "Historical Workstations" lernt, kann man daraus auch für eine größere Gruppe oder für einen Verbund sinnvolle Lösungen und Werkzeuge entwickeln. Nur wenn die Erfahrungen – und damit auch die Reflexion über Methoden – des einzelnen expliziert werden, können Lösungen vom einzelnen ausgehend verallgemeinert werden. Der Austausch über Methoden und Vorgehensweisen und die eigene Arbeitsorganisation darf also nicht verpönt sein, sondern muss in Projekte einfließen, die sich mit der Entwicklung digitaler Infrastukturen beschäftigen (oder diese aufbauen, um eine Forschungsfrage zu beantworten).

Digitale Geschichtswissenschaft bedeutet also auch: Austausch über die individuelle Arbeitsweise und ihre digitale Unterstützung, den man möglicherweise schon in der Lehre intensivieren kann – nicht nur Ergebnisse zu besprechen, Fragestellung und Vorgehensweise, sondern Arbeitsweise und Arbeitsorganisation.

In meinem beruflichen Umfeld des Museums spielt die Frage, welche Tools für die interne (und externe) Wissensorganisation nützlich sein können, eine große Rolle. Nur wenn man Verständnis dafür aufbaut, wie verschiedene Menschen recherchieren, was ihre Fragestellungen und Vorgehensweisen sind, wie sie die Fragen formulieren und was sie von einem digitalen Tool erwarten, können sinnvolle und nachhaltige Lösungen entstehen, die auch über die einzelne Institution hinaus nützen, können sowohl nützliche interne Tools und Informationsquellen wie schließlich auch ebenso nützliche externe Webangebote entwickelt werden. Es hilft also meist nichts, z.B. ein Werkzeug hinzustellen, das IT-Expert*innen entwickelt haben und von dem sie wissen, dass es anderen auch doch auch geholfen habe – zuvor muss man verstehen, bei welchem Arbeitsschritt das Werkzeug eigentlich helfen soll.

Diese Erfahrung lässt sich auch auf digitale Forschungsinfrastrukturen übertragen. Wer Quellen oder Literatur sichtet, kann sich entscheiden: Sollten die Erkenntnisse in einem langen Dokument oder modular abgelegt werden, damit sie in verschiedenen Kontexten verknüpft oder weitergenutzt werden können? Hilft dabei eine Datenbank und welche Datenfelder, also Informationseinheiten, können nützlich sein? Gibt es vielleicht eine bereits existierende (wie Lit-Link) oder wird ein Programm benötigt, in dem eine Datenbank nach eigenen Bedürfnissen selbst erstellen werden kann (wie Access oder Filemaker), um auch auszuprobieren, was einem am besten hilft? Vielleicht benutzt man zum Erstellen der eigenen Texte (der eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse) ein Tool, das auf diese Quellen (Literaturverwaltung) direkt zugreifen kann, z.B. um Fußnoten zu erstellen. Und schließlich auch eine wichtige Frage: Wie aufwändig ist das Erlernen des Tools oder das Anlegen einer Struktur im Verhältnis zur Arbeitserleichterung und Übersicht, die es einem bringt?

Wenn dies geklärt ist, stellt sich die Frage, was an all diesen Arbeitsschritten nur für die Spezifik des einen Projektes gilt und was davon für die eigene allgemeine Arbeitsorganisation übertragbar ist – vielleicht sogar so weit, dass auch andere Forscher*innen das ebenfalls nützlich finden würden (neben selbstverständlich den Ergebnissen der Forschung).

Je tiefer jemand in ein Thema (oder die Quellen zu einem Thema) einsteigt, desto differenzierter wird das Vokabular (auch das Vokabular, das genutzt wird, um Quellen und Erkenntnisse auffindbar zu machen oder anderen zuordnen zu können). Es kann sich die Frage stellen: Kann so ein Vokabular oder eine Erschießungsmethode Anknüpfungspunkte zu bereits bestehenden Systemen haben, wo ist das sinnvoll oder wo sind bestimmte Begriffe, die aus der Vogelperspektive auf ein Thema sinnvoll sind, im spezifischeren Kontext nicht mehr präzise genug bzw. können nicht abgeglichen werden.

Ein Beispiel in diesem Zusammenhang ist eine kollaborativ entstandene Bibliographie zum Ersten Weltkrieg (verschiedene Forscher haben beigetragen, was aus ihren Arbeitsschritten entstanden ist) – und bei diesem Beispiel wird gemeinschaftlich ein Tool genutzt, dass auch jede*r Einzelne fürs Bibliographieren nutzen kann: http://www.firstworldwarstudies.org/bibliography.php (Biblographie WWI)

Das Erfordernis, zu strukturieren, ergibt sich für jede*r Einzelne – die Frage, wo Details nötig sind und wo eher der Überblick, hängt von der einzelnen Forschungsfrage ab. So ein Projekt bietet die Möglichkeit, dass andere von dieser Arbeit profitieren und andere etwas einspeisen, von dem man selbst wiederum profitiert.

  • Selbstverständlich kann so die Literaturbasis so umfangreich werden, dass die Auswahl für die eigene Forschungsfrage im Verhältnis wiederum aufwändiger wird; die größere Menge an Information kann den Auffand verlagern, der nun darin besteht, Relevantes auszuwählen (der eigene Wissensorganisationsprozess, den einem niemand – auch keine Maschine – abnehmen kann ...: das Zuordnen, Auswerten, Aussortieren); Es gibt natürlich ein Auswahlkriterium jeder*s Einzelnen, das ich nicht kenne – insofern unterscheidet sich eine solche Zusammenstellung in hilfreicher Weise von einer Suchanfrage in eine*r Bibliothek.
  • Und gleichzeitig – und das wäre der Vorteil, entsteht eine vorsortierte Basis dessen, was andere Forscher*innen, die sich aktuell mit dem Thema beschäftigen, rezipieren; damit wird auch diese gemeinschaftliche Bibliographie eine Art Informationssystem und Austauschforum (Qualitätskriterium der Vorauswahl durch eine Expertengemeinschaft)

Auch Schlagworte, Kommentare, Annotationen zu veröffentlichten Quellen können einem zwar nicht die eigene Bewertung abnehmen. Aber es kann dennoch die Vorgehensweise anderer Forscher*innen bereichern und ergänzen, da es z.B. auch helfen kann, manche Quellen überhaupt auffindbar zu machen, indem sie z.B. mit thematischen Hinweisen versehen werden, die als Metadaten zum Wiederfinden und der Sortierbarkeit beitragen.

In der historischen Forschung ist das Ziel des Computereinsatzes oft nicht so klar definiert (wie z.B. in der sozialwissenschaftlichen), weil die Ziele der Interpretation sich mit der genauen Analyse der Daten oft verändern – erst die Quellenanalyse, bei der man bereits strukturiert vorgehen muss, klärt manchmal, welche Forschungsfrage die Quellen beantworten können. (Peter Haber, Digital Past, München 2011, S. 19f.)

So können auch die Werkzeuge der Datenerhebung und ihrer Strukturierung oder Zuordnung z.T. erst mit der Bearbeitung der Quellen entstehen, anders z.B. als eine gezielte Datenerhebung in den Sozialwissenschaften, die in ein vorher angelegtes Datenlayout einfließen kann. Mit der Quellensichtung ergeben sich oftmals Struktur und Datenstruktur … und verändern sich wohlmöglich mit der weiteren Bearbeitung. Das kann eine Herausforderung sein bei der Entwicklung von Tools – und eine Herausforderung für die diesbezügliche interdisziplinären Zusammenarbeit mit denen, die Tools entwickeln können.

4. Digitale Quellen

An dieser Stelle kommt die Zusammenarbeit der Forscher*innen, Forschungseinrichtungen und Forschungsprojekte mit denjenigen Institutionen ins Spiel, die sich mit der Bewahrung von Quellen beschäftigen (Bibliotheken, Museen, Archive). Auch hier muss ein Austausch zwischen den unterschiedlichen Arbeitserfordernissen stattfinden. Und dieser kommt in der Diskussion über digitale Geschichtswissenschaft immer noch viel zu kurz!

Und umgekehrt – und das führt direkt zum Thema digitaler Forschungsumgebungen, wie man sie sich sinnvoll vorstellen kann – können und müssen die Forscher*innen als die Nutzer*innen der Quellen bei der Erschließung der Quellen direkt mitwirken. Zum Beispielen können Annotation (aus der eigenen Arbeit) helfen, Quellen auch inhaltlich (damit z.T. auch fürs Auffinden) zu erschließen, was die Institutionen, die diese bewahren, nur zu einem geringen Teil leisten können.

Ungelöst sind für die Organisationen, die Quellen bewahren, viele rechtliche Unsicherheiten, die sich mit der Veröffentlichung von Quellen ergeben. Es sind einerseits urheberrechtliche und nutzungsrechtliche Beschränkungen bei Werken, deren Urheber noch nicht 70 Jahre tot sind – oder bei denen die Persönlichkeitsrechte abgebildeter oder erwähnter Personen betroffen sein können (siehe Links zum Thema Copyright und Urheberrecht in einem anderem Beitrag dieser Website). Die Klärung der rechtlichen Situation für jede einzelne Quelle ist oft ein Ressourcenproblem – betroffen sind auch solche Werke, bei denen Urheber oder andere Rechteinhaber nicht mehr recherchiert werden können. Davon betroffen können sein digitalisierte Zeitschriftenbestände, die Illustrationen enthalten, auch Literatur, Werbung, Fotografien. Und geklärt und gesichtet werden muss das eben im Einzelnen – wodurch die Arbeit entsteht.

Es gibt ein prominentes Beispiel, das an anderer Stelle dokumentiert ist und auf das hier nur kurz verwiesen sein soll (Links dazu auf der Unterseite mit Informationen zu Copyright und Urheberrecht). Die Deutsche Nationalbibliothek hat mit DFG-Geldern gefördert, eine Reihe von im Exil erschienenen Zeitschriften digitalisiert und online zugänglich gemacht. Und dann hat sich diese einflussreiche Institution dennoch entschieden, wegen vieler ungeklärter Rechte, diese Sammlung wieder offline zu nehmen. Heute gibt es einen Hinweis auf der Website, dass die Sammlung nur noch offline angesehen werden kann, das gleiche trifft auf die Sammlung jüdischer Periodika aus der NS-Zeit zu. http://www.dnb.de/DE/DEA/Kataloge/Exilpresse/exilpresse_node.html (DNB: Exilpresse digital)

Und da vielfach bei solchen Quellenveröffentlichungen die Quellen selbst das wichtigste Hilfsmittel für Suchanwendungen und die Nutzung von Metadaten sein können, kann es in einem solchen Fall sein, dass selbst die Durchsuchbarkeit (also eine Vorab-Recherche, was genau in den Beständen zu finden ist) online ohne die Quellen extrem eingeschränkt bzw. für die Forschungsfrage nutzlos ist.

Es gibt dennoch eine Reihe sehr guter Quellensammlungen online (siehe Links unten auf dieser Seite). Und es gibt viele Fragen, die an verschiedene Formen der Erschließung anknüpfen (Volltext, beschreibende Schlagworte, kontrolliertes Vokabular, verschiedene Zugriffe über Namen, Daten, Themen ...) und in den verschiedenen Beispielen unterschiedlich gelöst sind.

Ebenso wichtig aber ist die Frage nach der Langzeitverfügbarkeit verschiedener Formate, die für die Veröffentlichung gewählt werden: Was ist wie zugänglich, wie lange und für wen bzw. für welche Endgeräte – und was nicht? Wie werden Viewer realisiert, manche von ihnen werden, weil Technologien veralten, von den Institutionen, die hier investiert haben (oder gefördert wurden), irgendwann ersetzt werden müssen, Daten werden migriert werden müssen. Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage, wie Text- (und Bild-)quellen maschinenlesbar zugänglich gemacht werden und wie zukunftsfähig dies erfolgt. Das sind Fragen (gern auch als technische Details abgetan, für die sich ausschließlich "Techniker" interessieren sollten ...), die die Wissenschaft nicht vollständig delegieren sollte, denn die Perspektiven auf solche Fragen sind je nach Disziplin unterschiedlich!

Und schließlich können über digitale Medien auch neue Personengruppen in die Bewertung und Identifizierung von Quellenmaterial einbezogen werden (über Forscher*innen hinaus). Dabei werden User*innen der veröffentlichten Bestände aufgefordert, bei der Identifizierung von Bildquellen oder ihre Zuordnung zu Orten z.B. zu helfen. Die Kurator*innen bewerten die Hinweise und ihre weitere Nutzung und speisen sie in die Dokumentation zu den Quellen ein. Das machen inzwischen zahlreiche Organisationen (siehe Links unten auf dieser Seite).

Es gibt aber auch noch einen anderen Bereich digitaler Quellen und das sind solche Quellen, die es ohne das digitale Medium gar nicht gegeben hätte. Als bemerkenswertes Beispiel hierfür kann die Website Rickshaw.org dienen, die von Privatpersonen eingerichtet und von vielen Privatpersonen befüllt wurde. Alle diese Personen vereint die Erfahrung, dass sie Ende der 1930er Jahre nach Shanghai emigrieren mussten, eine der letzten möglichen Zufluchtsorte für verfolgte Jüd*innen. Und sie leben heute über die ganze Welt verstreut, weil Shanghai für viele eine Durchgangsstation war, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder verlassen haben. Sie tauschen in dieser Seite privates Material, auch historisches Material, Erinnerungsfotos, Dokumente, Zeitungen, das sie auf ihre eigene Weise erschließen und zugänglich machen. Sie berichten über ihre gemeinsamen Erinnerungsreisen und Treffen, sie publizieren Artikel zum Thema, die sie auch anderen Quellen entnehmen.

Wenn es niemanden mehr gibt, der die Seite betreiben kann oder will, stellt sich die Frage, was passiert mit deren Inhalt – eine Institution wie ein Museum könnte aus den oben genannten Gründen – ggf. ungeklärte Rechte der veröffentlichten Dokumente – eine solche Seite nicht selbst betreiben. Wie archiviert man solcherart digitales Material, wie viel Arbeit kann es machen, es – wenn auch nicht öffentlich – weiter zugänglich zu machen (auch die Tools, die man für eine zukunftsfähige Zugänglichkeit braucht, mit zu bewahren).

Man könnte auch einwenden, dass man vielleicht heute Bilder und Andenken eher bei einer Plattform wie flickr einstellen würde und somit der Betreuungsaufwand vielleicht gering wäre – vielleicht technisch eine langfristige Zugänglichkeit damit gesichert wäre ... Aber einerseits fehlte dann der Kontext, das Eigenleben, die Organisation dieser Gruppe, wie sie sich auf der Website abbildet und ebenfalls einen Quellenwert haben kann bzw. zum Quellenwert beiträgt. Andererseits ist – übrigens auch schon bei der Nutzung von Tools für die Forschungspraxis – die Frage berechtigt, wie viel man eigentlich den Plattformen kommerzieller Anbieter – und damit allein ihrer zukünftigen Strategie, die man noch nicht kennt – übereignen will. Auch heute schon gibt es die ersten Beispiele für frühere – kommerzielle – Erfolgsstrategien der Medienproduktion, die inzwischen in Sackgassen gelandet sind.

Als kleiner Exkurs sollte an dieser Stelle auch problematisiert werden, was für Projekte gilt, die man mit Student*innen auf kommerziellen Plattformen (wie tumblr) umsetzt, um ihnen digitale Medien nahe zu bringen und sie damit letztlich nötigt, sich bei diesen kommerziellen Dienstleistern anzumelden (bzw. deren Kunden zu werden). Während man doch eigentlich vielleicht auch Sensibilität im Umgang mit Firmen lehren sollte, die ihrerseits versuchen, digitale Medien zu prägen. Und umso wichtiger wird es, dass wissenschaftliche Einrichtungen Präsenz zeigen und Alternativen bieten für Projekte von Student*innen zum Beispiel.

5. Digitale Forschungsmethoden – digitale Forschung

Was wissenschaftlich möglich ist, hängt auch von den Medien ab, die eine Wissenschaft nutzen kann! Es entstehen neue Vergleichssysteme, Diskurssysteme, die Ordnung des Wissens prägt auch die Erkenntnis. Man kann schon beim Wandel, den der Buchdruck herbeigeführt hat, sehen, dass die Verbreitung von Wissen auch den Vergleichsraum für Aussagen und Erkenntnis erweitert hat.

Problematisch ist, wenn bei der Bewertung der Medien verwechselt wird, was eigentlich auseinandergehalten gehört: Die computerbasierte Auswertung von Daten/Quellenmaterial wird nicht die Formulierung der Fragestellung übernehmen! Auch wenn man z.B. Klagen darüber hört, dass die volltextbasierte Auswertung von Textmengen (z.B. von historischen Zeitschriften) Information ihrem Kontext entreiße und damit für die historische Fragestellung unangemessen sei, wird es nach wie vor an der Formulierung der Fragestellung und des Methodenapparats der*s einzelnen Forscherin*ers liegen, wie sie*er diese Kontexte einschätzt und wie und ob sie*er sie in seine Analyse einbezieht. Das muss nach wie vor begründet und ausgewählt werden – daran ändert sich nichts.

Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion, bei der eine Teilnehmerin sich fast schon schwärmerisch erinnerte, wie sie für ihre Dissertation Zeitschriftenbände im Archiv eingesehen hat, wie wichtig der Geruch, der Seitenaufbau, das Umblättern, das Anfangen und Beenden eines Bandes, die Werbung auf einzelnen Seiten – alles in allem also bestimmte Aspekte des Kontexts – waren. Die Angst, dass man zukünftig automatisch darauf verzichten müsse, hat bei mir zunächst Unverständnis ausgelöst. Niemand erwartet, dass Historiker*innen sich von einer Volltextsuche die Sichtung der für erforderlich gehaltenen Kontexte verbieten lassen. Eine Volltextsuche kann zudem bei bestimmten Fragestellungen natürlich auch im Wege stehen sein, z.B. die Beobachtung verhinden, wie sich z.B. im Verlauf der Zeit für ein und das selbe Konzept Begrifflichkeiten verändert haben. Die Volltextsuche kann andererseits für gewisse Fragestellungen und auch für das Sichten von einem Quellenumfeld oder eine erste Auswahl nützlich sein und Zeit sparen. Wenn aber der Kontext eines Artikels z.B. für die Interpretation als notwendig erachtet wird, dann ergibt es keinen Sinn, durch das Vorhandenseins einer Volltextsuche auf die Sichtung dieses Kontexts zu verzichten. Wenngleich es natürlich stimmt, dass das Auffinden einer Quelle im Internet diese zunächst aus ihrem Kontext löst (auch aus dem Kontext der Institution, die sie bewahrt). Aber diese Kontexte herzustellen und aufzusuchen, bleibt die Aufgabe von Historiker*innen. Der Umgang mit neuen Methoden und ihren Möglichkeiten ist Teil der Vermittlung von historischer Methode – und ersetzt sie nicht.

Das wichtigste und größte Thema im Kontext der digitalen Geschichtswissenschaften – und mit Sicherheit auch das spannendste, das es weiter zu beobachten gilt und für das weiter interessante Forschungsfragen entstehen werden, die man vorher als Frage vielleicht gar nicht formulieren konnte – das ist die Beschäftigung damit, welche Fragen wir überhaupt mit digitalen oder EDV-gestützten Methoden beantworten werden können, wo neue Verknüpfungen sichtbar oder einsichtig werden, können die man vorher nicht erkennen oder argumentieren konnte. Hierfür gibt es einige spannende Ansätze und Überlegungen. Eine Perspektive soll hier als Beispiel dienen.

Die computergestützte Auswertung von Daten (insbesondere von großen Datenmengen) kann Ergebnisse hervorbringen, die andere Methoden nicht hervorbringen können. Die zu formulierende Fragestellung knüpft an das herkömmliche Methodenwissen an und kann vom Computer nicht übernommen werden. Dass aber z.B. durch die Visualisierung von Daten Zusammenhänge sichtbar werden können, auf die man vorher nicht gekommen wäre, kann tatsächlich die Forschungsperspektive erweitern. Auch für einen solchen Prozess kann jede*r an die Erfahrung an jeder einzelnen "Historical Workstation" anknüpfen. Dass Daten aus Tabellen (z.B. in Excel) in Diagramme und Schaubilder überführt werden können, dient nicht nur – wie es vielleicht jede*r schon ausprobiert hat – der übersichtlichen Präsentation. Tatsächlich können Zusammenhänge sichtbar werden, die sich aus dem reinen Datenmaterial nur sehr mühsam ergeben.

Als Beispiel soll ein Visualisierungsprojekt (das Projekt Mapping the republic of letters http://republicofletters.stanford.edu/) dienen, das sich mit der Korrespondenz von Gelehrten der Aufklärung am Beispiel einzelner Personen und ihrer Briefwechsel befasst. Die maschinenlesbaren Daten von Briefen, Datierung, Personen und den Ziel- und Absenderorten, z.B. der umfangreichen Korrespondenz von Voltaire (http://ink.designhumanities.org/voltaire/ wurden auf einer interaktiven Karte verortet. Die beteiligten Forscher beschreiben in einigen der veröffentlichten Projektvideos, wie ihre bisherige Forschungspraxis (nämlich vor allem das Lesen von Briefen) ergänzt wurde durch den direkten Eindruck von Netzwerken und Wissenstransferprozessen, wie sich ihre Argumentationen erweitern konnte und auch neue Fragen entstehen konnten. Diese Perspektive ist auch deshalb spannend, weil zwar in unserer Disziplin Bildquellen zunehmend eine wichtige Rolle spielen (und auch dafür gibt es inzwischen bemerkenswerte Tools), aber die Erfahrung mit der Wissensrepräsentation durch Visualisierung stehen noch sehr am Anfang – bislang ist diese noch sehr text- und zahlenbasiert.

Und auch hier lässt sich der Rückbezug zur einzelnen "Workstation" herstellen: In einem ganz anderen Forschungskontext (in den Niederlanden) wurde ein Tool entwickelt, in dem man mit den eigenen Forschungsdaten (und einer selbst angelegten Struktur) Visualisierungen und geographische Verknüpfungen herstellen kann (http://nodegoat.net). Wenn Daten dann ggf. projektübergreifend miteinander verknüpft werden können, möglicherweise auch disziplinübergreifend, weil es an der ein oder anderen Stelle doch gelingt, gemeinsame Regeln, Strukturen oder Vorgehensweisen zu entwickeln, wie man z.B. Dinge beschreibt, ordnet, systematisiert und auf dieser Grundlage Informationen dann von Maschinen verknüpft werden können – weil es vielleicht an der ein oder anderen Stellen doch Gemeinsamkeiten von Arbeitsweisen oder des Vokabularen gibt, können wieder neue Bilder und Erkenntnisprozesse entstehen.

Fazit

Es geht nicht darum, über den Haufen zu werfen, was an wissenschaftlichen Regeln existiert oder existiert hat – was Qualitätskriterien, Argumentationsstrategien, Methoden sind. Es geht vielmehr darum zu fragen, wie diese unterstützt werden können, wie diese besser mit anderen vernetzt werden können (auch natürlich, welche Hürden und Grenzen es hierfür gibt).

Hierfür müssen die herkömmliche Methoden vermittelt werden, nämlich der Umgang mit Quellen, die sich in ihrer Art und Auffindbarkeit ändern. Es muss zusätzlich Methodenwissen für digitale Vorgehensweisen und Hilfsmittel entwickelt und vermittelt werden. Man muss sich damit vertraut machen, muss vielleicht auch in der Lage sein, mit jemandem zu kommunizieren, der solche Ideen in technische Systeme umsetzen kann. Man muss bewerten können, was sie*er vorschlägt, muss Kriterien formulieren können, die der eigenen Forschungspraxis angemessen sind. Das wäre vielleicht eine Kompetenz, die man als Expertise für "digitale Geschichtswissenschaften" oder "Digital Humanities" bezeichnen könnte. Aber man sollte diesen Teil des methodischen Universums nicht den IT-Expert*innen überlassen und schauen, ob man eben eine*n dafür hat oder nicht. Der interdiszilinäre Austausch und die Kompetenz dazu sind unabdingbar.

Es gilt schließlich, dieses Wissen – das Nutzen digitaler Methoden und den Umgang mit digitalen Quellen für die eigenen Zwecke – in den Methodenkanon zu integrieren, so wie man das Wissen darum, wie man eine Hausarbeit aufbaut, wie und wann man eine Fußnote formuliert, im Studium vermittelt. Und dann gibt es noch die Expert*innen/Spezialist*innen, die digitale Forschungsumgebungen oder digital unterstützte Forschungsstrategien mit den technisch Bewanderten entwickeln. Letztere kann man vielleicht vergleichen mit denen, die sich besonders gut mit Siegeln auskennen, Wappen zuordnen können oder besonders gut Schriften bestimmter Quellarten lesen können – vergleichbar also mit den Expert*innen verschiedener existierender Historischer Hilfswissenschaften, die vielleicht nicht mehr alle vollumfänglich gelehrt werden (bzw. häufig auch vor allem von "Praxisexpert*innen" gelehrt wurden, z.B. von Archivar*innen). Aber sie müssen Forscher*nnen Hilfsmittel zur Verfügung stellen und insofern die Arbeitsprozesse kennen bzw. selbst an ihnen beteiligt sein.

Links & Literatur

Allgemeines

Siehe die Literaturhinweise auf der Seite "Worum geht es?"

Die Sektion "Digitalisierung der Geschichtswissenschaften. Gewinner und Verlierer?" vom Historikertag 2014 in Göttingen steht auf YouTube zur Verfügung: https://www.youtube.com/watch?v=OrswNLKQwW0

Kleine Auswahl von Beispielen digitalisierter Quellen

Quellensammlungen mit "Nutzer*innenbeteiligung"

Beispiele digitaler geisteswissenschaftlicher Forschungsprojekte